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Kindeswohlgefährdung, Drohung oder Rettung?
Ist das Kindeswohl gefährdet? Wodurch ist es denn gefährdet? Und: was ist das eigentlich genau, das Kindeswohl?
Diese Fragen stellen sich jedes Jahr viele tausend Eltern, die sich aus den verschiedensten Gründen in einem Sorgerechtsverfahren oder Umgangsverfahren vor dem Familiengericht wieder finden. Ganz besonders sind mit dem Begriff der Kindeswohlgefährdung diejenigen betroffen, denen vom Gericht oder Jugendamt aufgrund einer behaupteten Kindeswohlgefährdung das Kind weggenommen werden soll.
Begriff des Kindeswohls
Aber auch andere begegnen dem Begriff der Kindeswohlgefährdung vor dem Familiengericht. Gem. § 1997a BGB hat das Gericht in familienrechtlichen Verfahren stets die Entscheidung zu treffen, die unter Berücksichtigung der tatsächlichen Gegebenheiten und Möglichkeiten dem Wohl des Kindes am besten entspricht. Da findet er sich, der Begriff des Kindeswohls. Aha. Und was heisst das jetzt? Was ist denn das Kindeswohl? Was ist eine Kindeswohlgefährdung?
Kindeswohl und Kindeswohlgefährdung im Gesetz
Im Gesetz findet sich dazu weiter nichts. Der Begriff des Kindeswohls und auch der Kindeswohlgefährdung wird zwar in vielen Paragraphen benutzt (vgl §§ 1626c Abs 2 S 3, 1631b S 3, 1632 Abs 4, 1666 Abs 1, 1671 Abs 2 Nr 2, 1672 Abs 1 S 2 und Abs 2, § 1678 Abs 2, 1680 Abs 2, Abs 3, 1681, 1682, 1684Abs 4 S 1 und 2, 1685 Abs 1 und 2, 1686 S 1, 1687 Abs 2, 1687a, 1688 Abs 3S 2, 1693, 1696 Abs 1 und Abs 2). Er wird aber nirgendwo definiert. Es handelt sich um einen sogenannten „unbestimmten Rechtsbegriff“. Diesen muss der Richter ausfüllen, eine genaue Definition gibt es nicht. Das liegt schon allein daran, dass die möglichen Fallvarianten und Umstände des Einzelfalles nahezu endlos sind. Relevant für die Bestimmung des Kindeswohls ist die dauerhafte körperliche, geistige und seelische Entwicklung des Kindes. Der Kindeswille, die gesundheitliche Versorgung, die emotionale und psychische Stabilität, die Möglichkeit der Bindung an ein soziales Umfeld.
Wann ist das Kindeswohl gefährdet?
Zur Frage der Kindeswohlgefährdung findet sich reichhaltige Rechtsprechung, die diesen Begriff definiert. Der Begriff der Kindeswohlgefährdung ist zentral für die beiden Hauptnormen bei der Frage der Entziehung der Kinder von den sorgeberechtigten Eltern: dem § 1666 BGB (Sorgerechtsentzug bei Kindeswohlgefährdung) und dem § 42 SGB VIII (Inobhutnahme bei Kindeswohlgefährdung).
Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesgerichtshofs ist das Kindeswohl gefährdet, wenn eine gegenwärtige, in solchem Maß vorhandene Gefahr vorliegt, dass sich bei der weiteren Entwicklung der Dinge eine erhebliche Schädigung des geistigen, seelischen oder körperlichen Wohls des Kindes mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt (BVerfG FamRZ 2010, 713, 714 Rn 41; BGH FamRZ 1956, 350, 351; FamRZ 2005, 344, 345; OLG Brandenburg FamFR 2010, 357; OLG Hamm FamRZ 2009, 1752 f; OLG Karlsruhe FamRZ 2009, 1599). Das ist schönes, präzises Juristendeutsch. Was heisst das genau?
Wann liegt in der Praxis eine Kindeswohlgefährdung vor?
Es braucht für die Annahme einer Kindeswohlgefährdung alle Elemente der folgenden Liste:
– Gefahr für das Kindeswohl
eine drohender Schaden für das geistige, seelische oder körperliche Wohl des Kindes. Für diese Gefahr für das Kindeswohl muss noch kein Schaden eingetreten sein, die Möglichkeit muss aber anhand konkreter Anhaltspunkte belegbar sein.
– Gegenwärtigkeit der Kindeswohlgefährdung
Die Kindeswohlgefahr muss unmittelbar bevorstehen oder schon stattfinden. Nicht ausreichend ist also, dass in der Vergangenheit Kindeswohlgefährdungen vorlagen, wenn sich aus diesen nicht schließen lässt, dass weitere Kindeswohlgefährdungen drohen.
– Erheblichkeit des drohenden Schadens für das Kindeswohl
Der befürchtete Schaden für das Kindeswohl muss von einiger Bedeutung sein. Das bedeutet, dass keine Kindeswohlgefährdung vorliegt, wenn der befürchtete Schaden nur unwesentlich oder vorübergehend ist. Hier ist zu beachten, dass ein Entzug des Sorgerechts ein sehr erheblicher Eingriff in die Familienrechte des Art 6 II GG sind. Daher muss ein gravierender und/oder nachhaltiger Schaden für das Kind drohen um von einer Kindeswohlgefährdung im Sinne des § 1666 BGB ausgehen zu können. Die Jugendämter und Familiengerichte haben nicht die Aufgabe die Idealeltern für Kinder zu suchen und/oder eine bestmögliche Versorgung der Kinder sicher zustellen. Vielmehr dürfen Sie mit einem Kindesentzug wegen Kindeswohlgefährdung erst eingreifen, wenn die Versorgung des Kindes selbst Mindestanforderungen nicht mehr erfüllt.
– mit ziemlicher Sicherheit
die Kindeswohlgefährdung muss auch mit ziemlicher Sicherheit drohen. Es muss also anhand belegbarer Anhaltspunkte aufzuzeigen sein, dass die Gefahr für das Kindeswohl tatsächlich droht.
-Drohung mit dem Sorgerechtsentzug
Leider kommt es immer wieder zu Situationen, in denen den Eltern mit dem Entzug des Sorgerechts gedroht wird. Oft willigen Eltern unter diesem Druck in eine Fremdunterbringung ein, die Kinder verschwinden und es kommt gar nicht erst zu einer gerichtlich überprüften Entscheidung über die Kindeswohlgefährdung. Hier ist darauf hinzuweisen, dass der Maßstab der Kindeswohlgefährdung ein sehr hoher ist, der nur nach sorgfältiger Prüfung bejaht werden kann. Dabei ist immer eine Abwägung sämtlicher Umstände unter Berücksichtigung der Anlagen und des Verhaltens des Kindes vorzunehmen (OLG Brandenburg FamRZ 2008, 1556; JAmt 2008, 49, 50). Diese Anstrengung sollte beinahe immer durchgeführt werden. Denn nur so lässt sich sicherstellen, dass auch tatsächlich eine für die Wegnahme der Kinder ausreichende Kindeswohlgefährdung vorliegt.