Inhaltsverzeichnis
- Aufenthaltsbestimmungsrecht für ein Kind übertragen – Geschwistertrennung erfolgt
- Beschluss des Amtsgerichts Pasewalk
- Gründe der Entscheidung
- Sachverhalt
- II.Rechtliche Prüfung
- Aufenthalt des älteren Kindes:Kindeswille
- Kindesanhörung des älteren Kindes
- Keine Gründe gegen Aufenthalt beim Vater
- Geschwistertrennung muss in Kauf genommen werden
- Aufenthalt des jüngeren Kindes unstreitig bei Mutter
- Extremer Konflikt der Eltern: Gesundheitssorge folgt Aufenthalt
- Ansonsten bleibt gemeinsame Sorge trotz massiven Konflikts
Aufenthaltsbestimmungsrecht für ein Kind übertragen – Geschwistertrennung erfolgt
In diesem extrem streitigen Verfahren zum Sorgerecht zweier Brüder vor dem Amtsgericht Pasewalk kam es nach Einholung eines Gutachtens zu einer in der Praxis sehr ungewöhnlichen Entscheidung: Das Aufenthaltsbestimmungsrecht und die Gesundheitssorge für den älteren Jungen wurde dem Vater übertragen, für das jüngere Kind wurden diese Bereiche der Mutter übertragen.
Anträge auf Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechtes nach § 1671 Absatz 1 BGB sind oft sehr schwierig zu prognostizierende Verfahren. Hier lag dem ganzen ein absolut extremer Elternkonflikt zu Grunde. Dieser äußerte sich unter anderem in erheblichen strafrechtlichen Schritten der Eltern gegeneinander und dem Verdacht tatsächlicher Straftaten gegeneinander.
Die räumliche Entfernung der Wohnsitze der Eltern (Vater NRW, Mutter MV) machten die Umgangskontakte darüber hinaus sehr schwierig.
Im Rahmen des Verfahrens wurde ein Gutachten eingeholt. Auf der Grundlage dieses Gutachtens erfolgte eine Entscheidung, welche die Kinder zwischen den Eltern aufteilte.
Für extrem strittige und hoch komplexe Sorgerechtsverfahren empfehlen wir die möglichst fürhzeitige Begleitung durch hiermit erfahrene Anwältinnen im Familienrecht
*Beschluss des Amtsgerichts Pasewalk
In der Familiensache
– Antragsteller –
wegen elterliche Sorge, Umgang
hat das Amtsgericht Pasewalk durch die Richterin am Amtsgericht Petersen beschlossen:
1. In Abänderung des Beschlusses des Amtsgerichts Anklam vom 03.02.2011, AZ, werden das Aufenthaltsbestimmungsrecht und die Gesundheitssorge für das Kind 1 auf den Antragsteller allein übertragen.
2. Bezüglich des Kindes 2 verbleibt es bei der bereits mit Beschluss des Amtsgerichts Anklam vom 03.02.2011, Az, erfolgten Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts auf die Antragsgegnerin. Zusätzlich wird ihr die Gesundheitssorge für das Kind 2 allein übertragen.
3. Im Übrigen verbleibt es bei der gemeinsamen elterlichen Sorge.
4. Die Kosten des Verfahrens werden gegeneinander aufgehoben.
5. Der Verfahrenswert wird auf 3.000,00 € festgesetzt.
Gründe der Entscheidung
Sachverhalt
I.
Der Antragsteller und die Antraggegnerin sind die geschiedenen Eltern der im Tenor genannten Kinder 1 und 2.
Vorherige Entscheidung: Aufenthaltsbestimmungsrecht beider Kinder auf Mutter
Mit Beschluss des Amtsgerichts Anklam vom 03.02.2011, Az, wurde das Aufenthaltsbestimmungsrecht für beide Kinder auf die Antragsgegnerin allein übertragen, im Übrigen verblieb es bei der gemeinsamen elterlichen Sorge. Zur Begründung und auch zur Vorgeschichte bis zum Erlass des Beschlusses wird auf die Gründe des zitierten Beschlusses Bezug genommen.
Umgang bei erheblicher Entfernung und massivem Elternkonflikt
In der Folge lebten beide Kinder bei der Antragsgegnerin in Anklam, während der Antragsteller weiterhin seinen Wohnsitz in Neuss hatte. Umgang zum Antragsteller fand statt, gestaltete sich jedoch zum einen aufgrund der Entfernung zwischen den Wohnorten, zum anderen wegen des weiterhin hohen Konfliktniveaus zwischen den Eltern schwierig und war Gegenstand mehrerer gerichtlicher Verfahren. Zuletzt schlossen die Beteiligten vor dem Oberlandesgericht Rostock am 07.08.2014 eine Vereinbarung zum Umgang. Unstimmigkeiten bei der Umsetzung der Vereinbarung zogen weitere gerichtliche Verfahren, insbesondere diverse Ordnungsgeldanträge seitens des Antragstellers nach sich. Die Eltern bezichtigen sich gegenseitig, die Kinder zu beeinflussen. Weitere Streitpunkte waren Entscheidungen im Rahmen der Gesundheitssorge und die vorzeitige Einschulung des Kindes 1, die die Antragsgegnerin ohne vorherige Abstimmung mit dem Antragsteller veranlasst hatte.
Anträge der Eltern
In dem gegenständlichen Verfahren haben zunächst sowohl der Antragsteller als auch die Antragsgegnerin jeweils die Übertragung der elterlichen Sorge für beide Kinder beantragt. Jeder beansprucht für sich, besser zur kindeswohlgerechten Betreuung und Erziehung geeignet und insbesondere bindungstoleranter zu sein als der jeweils andere. Zu Einzelheiten wird auf die zur Akte gereichten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.
Lösungsorientiertes Gutachten
Im Rahmen der Einholung eines lösungsorientierten Gutachtens haben die Eltern sich zunächst darauf geeinigt, dass Kind 1 seinen Lebensmittelpunkt künftig bei dem Antragsteller und Kind 2 bei der Antragsgegnerin haben sollte, nachdem Kind 1 für eine Probephase von gut zwei Monaten bei dem Antragsteller gewohnt und beständig den Wunsch nach seinem dortigen Verbleib geäußert hatte, ebenso wie Kind 2 bei der Mutter bleiben wollte.
Einigung durch Mutter nicht eingehalten
In der mündlichen Verhandlung am 12.07.2016 wiederum mochte die Antragsgegnerin sich nicht zu einer dahingehenden Einigung entschließen, nachdem Kind 1 ihr gegenüber zu Beginn des Ferienumgangs geäußert habe, er sei noch nicht sicher, ob er immer bei dem Vater wohnen möchte.
Der Antragsteller beantragt nunmehr,
das Aufenthaltsbestimmungsrecht und die Gesundheitssorge für das Kind 1 auf ihn allein zu übertragen.
Die Antragsgegnerin beantragt,
ihr die elterliche Sorge für die Kinder 1 und 2 allein zu übertragen.
Verlauf des Verfahrens zum Sorgerecht
Der Antragsteller, die Antragsgegnerin, die Verfahrensbeiständin, die Vertreterin des durch das zuständige Jugendamt beauftragten freien Trägers der Jugendhilfe sowie beide Kinder sind persönlich angehört worden. Der Sachverständige Prof. Dr. hat das schriftliche familienpsychologische Kurzgutachten vom 05.06.2016 in der letzten mündlichen Verhandlung erörtert. Zu Einzelheiten wird auf die Protokolle vom 01.07.2015 und 12.07.2016, den Vermerk über die Kindesanhörung vom 28.07.2016 sowie das bei der Akte befindliche Gutachten Bezug genommen.
II.Rechtliche Prüfung
Die Entscheidung beruht auf § 1696 Abs. 1 BGB i.V.m. §§ 151 ff FamFG.
Es liegen triftige, das Wohl der Kinder nachhaltig berührende Gründe für eine teilweise Abänderung der Entscheidung vom 03.02.2011 vor.
Aufenthalt des älteren Kindes:Kindeswille
Dieses gilt insbesondere in Bezug auf den Aufenthalt des Kindes 1. Dieser hat ausweislich des Protokolls vom 01.07.2015 bereits vor diesem Termin sowohl der Verfahrensbeiständin als auch der Vertreterin der Volkssolidarität Ostvorpommern-Greifswald e.V. gegenüber angegeben, bei dem Vater leben zu wollen. Gleiches hat der dem Sachverständigen gegenüber sowohl vor als auch während der Probephase mehrfach geäußert. Wenn er zu Beginn des Ferienumgangs Anfang Juli 2016 gesagt hat, er sei sich noch nicht sicher, ob er dauerhaft bei dem Vater wohnen möchte, so mag das der Freude über das Wiedersehen der Mutter, des Bruders und der übrigen Familie mütterlicherseits geschuldet sein.
Kindesanhörung des älteren Kindes
Bei der Kindesanhörung am 28.07.2016 hat er jedenfalls klar geäußert, er wolle bei dem Vater leben und das solle auch so bleiben. Er hat glaubhaft angegeben, sich dort wohl zu fühlen, obwohl er Kind 2 vermisse. Das Bedauern über die Trennung von seinem Bruder hat ihn somit nicht dazu veranlasst, doch wieder bei der Mutter leben zu wollen, vielmehr meinte er, es wäre schön, wenn Kind 2 auch in Neuss wohnen würde – obwohl ihm bewusst ist, dass Kind 2, wie dieser in der Kindesanhörung auch klar geäußert hat, bei der Mutter bleiben möchte.
Dass der Wunsch, bei dem Vater zu leben, über einen so langen Zeitraum konstant geblieben ist, spricht dafür, dass es sich dabei um einen ernsthaften, autonom gebildeten und somit beachtlichen Kindeswillen handelt – dieses umso mehr, als er sich während des Ferienaufenthaltes bei der Mutter nach anfänglicher Unsicherheit wiederum manifestiert zu haben scheint. Eine Beeinflussung durch den Vater während dieses Zeitraumes ist unwahrscheinlich, zumal seit der mündlichen Verhandlung nur ein Telefonat des Kindes 1 mit dem Vater, am 14.07.2016, stattgefunden hat.
Keine Gründe gegen Aufenthalt beim Vater
Gründe, die gegen einen Aufenthalt des Kindes 1 bei dem Vater sprechen, sind nach dem derzeitigen Sachstand nicht vorhanden. Nach Einschätzung des Sachverständigen und auch dem persönlichen Eindruck des Gerichts ist der Antragsteller ein liebevoller und fürsorglicher Vater, ebenso wie die Antragsgegnerin eine liebevolle und fürsorgliche Mutter ist. Anhaltspunkte für erhebliche Defizite in der Erziehungsfähigkeit des Vaters sind nicht ersichtlich – abgesehen von der dem Wohl beider Kinder abträglichen Feindseligkeit gegenüber der Mutter, die aber ebenfalls bei der Mutter dem Vater eggenüber vorliegt. Kind 1 hat den Aufenthaltswechsel offenbar gut verkraftet. Zudem ist zu erwarten, dass die Entscheidung einen Schlussstrich unter die ständigen Streitereien der Eltern über den Aufenthalt des Kindes 1 setzt, was diesen erheblich entlasten dürfte – vorausgesetzt, die Antragsgegnerin akzeptiert die Entscheidung, womit nach dem Eindruck der mündlichen Verhandlung zu rechnen ist, nachdem Kind 1 in der Kindesanhörung seinen Willen klar und eindeutig geäußert hat.
Geschwistertrennung muss in Kauf genommen werden
Die Geschwistertrennung, die Kind 1 nach dem Eindruck in der Anhörung mehr bedauert als Kind 2, ist in Kauf zu nehmen, weil die Vorteile des Aufenthaltswechsels aus den genannten Gründen überwiegen. Dem Bedürfnis der Kinder, miteinander Kontakt zu halten, ist durch eine Umgangsregelung, die ausreichende persönliche Kontakte zulässt, sowie evt. Großzügigere und flexiblere Telefonzeiten als bisher Rechnung zu tragen.
Aufenthalt des jüngeren Kindes unstreitig bei Mutter
Bezüglich des Aufenthalts des Kindes 2 besteht kein Streit mehr zwischen den Eltern. Der Antragsteller akzeptiert den weiteren Aufenthalt bei der Antragsgegnerin, der auch dem ausdrücklich erklärten Willen des Kindes entspricht. Gründe, die gegen ein Verbleib des Kindes 2 bei der Mutter sprechen, sind nicht ersichtlich.
Aus den genannten Gründen ist das Aufenthaltsbestimmungsrecht für Kind 1 auf den Antragsteller zu übertragen und das Aufenthaltsbestimmungsrecht für Kind 2 bei der Antragsgegnerin zu belassen.
Extremer Konflikt der Eltern: Gesundheitssorge folgt Aufenthalt
Aufgrund der gravierenden Kommunikationsstörungen zwischen den Eltern ist es aus Gründen des Kindeswohls erforderlich, die Gesundheitssorge jeweils dem Elternteil zu übertragen, bei dem das jeweilige Kind lebt. Das ermöglicht dem jeweiligen Elternteil, auch solche Entscheidungen zur Gesundheitssorge, die über die Alltagssorge hinausgehen, ohne zu Lasten der Kinder gehende Diskussionen und Konflikte zu treffen. In der Vergangenheit kam es in Bezug auf ärztliche Behandlungen mehrfach zu Streitigkeiten und gegenseitigen Vorwürfen. Letztendlich ist jedoch jedem Elternteil zuzutrauen, die dem Kindeswohl am besten dienenden Entscheidungen im Rahmen der Gesundheitssorge für das jeweils bei ihm lebende Kind zu treffen. Das entbindet die Eltern allerdings nicht von der Verpflichtung, den jeweils anderen über gesundheitliche Probleme, ärztliche Eingriffe und ggf. verordnete Medikamente zu informieren. Das gilt in besonderem Maße, wenn auch während der Umgangszeiten Medikamente einzunehmen oder ärztliche Empfehlungen zu befolgen sind.
Ansonsten bleibt gemeinsame Sorge trotz massiven Konflikts
Im Übrigen erscheint eine Abänderung der in dem Beschluss vom 03.02.2011 getroffenen Entscheidung, es bei der gemeinsamen elterlichen Sorge in den anderen Bereichen zu belassen, nicht geboten. Die Kommunikationsprobleme bestanden bereits zum Zeitpunkt der Entscheidung. Das größte Konfliktpotential bietet immer noch die Gestaltung des Umgangs und der Telefonkontakte. Dieses Problem ist durch die vollständige Aufhebung der gemeinsamen elterlichen Sorge nicht zu lösen. Gerade weil der Umgang aufgrund der großen Entfernung mit erheblichem Aufwand und einigen Unwägbarkeiten verbunden ist (Verkehrsverhältnisse, Flugzeiten, Transportfähigkeit der Kinder bei Erkrankungen etc.), sind die Eltern gezwungen, sich in irgendeiner Form abzustimmen, wobei von beiden Seiten mehr Flexibilität und weniger Schuldzuweisungen als bisher zu fordern sind.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 81 FamFG.
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