Wie ich mit meinem Sohn lerne,
nicht den kleinsten Ausschnitt einer Situation
für ein Gesamtbild zu halten
Ich habe mit meinem Sohn sehr früh spielerisch begonnen, Situationen, die uns im Alltag begegnen, zu hinterfragen. Ich möchte Ihnen ein Beispiel geben: Wir gehen eine Straße entlang und sehen einen Müllwagen, der mitten auf der Straße steht, kein Mensch weit und breit zu sehen und dahinter stehen dicht an dicht im morgendlichen Berufsverkehr Autos. Manche hupen, aus anderen Autos gucken Köpfe, die die Situation erfassen wollen und das letzte Auto dieser Schlange versucht, in einem aufwändigen Manöver zu wenden.
Wir bleiben stehen und ich frage mein Kind „Was glaubst Du, könnte passiert sein, dass der Müllwagen stehen bleibt?“ Er überlegt. Dann schießt die erste Antwort aus ihm heraus: „Die Männer von dem Müllauto holen gerade eine Mülltonne!“ Könnte sein. Ich so: „Fällt Dir noch was ein?“ Ich merke, wie er darüber nachdenkt und dann sagt „Vielleicht helfen Sie gerade einer Frau oder einem Mann und kommen deshalb nicht zurück.“ Könnte sein. Ich bringe meine Idee ein: „Meinst Du es könnte sein, dass der Müllwagen nicht mehr weiterfahren kann, weil er eine Panne hat?“ Er guckt mich an und antwortet: „Könnte sein.“ Ich überlege weiter und mir fällt noch etwas ein: „Vielleicht haben die sich gedacht, vorn an der Ecke ist ein Bäcker, wir holen uns schnell ein Frühstück raus.“ Der Kleine antwortet: „Nee, Mama, dass würden die doch nie machen.“ Ich so: „Wieso?“ … Und so fallen uns immer mehr Dinge ein, was also passiert sein könnte.
Vielleicht fragen Sie sich jetzt, wozu eine doch völlig offensichtliche Situation hinterfragen? Manche Dinge sind doch sonnenklar! Die müssen nicht hinterfragt werden. Und ich sage „So abgedroschen, wie wahr: Die Dinge sind nie so, wie sie scheinen!“
Übertragen auf die Müllwagensituation kann es also viele Gründe haben, weshalb der Wagen unbemannt mitten auf der Straße steht. Wir sehen nur einen Ausschnitt der Situation. Es ist für mich ein Alltagsmoment, in dem wir trainieren können, aus unseren Denkrillen auszutreten und Ideen zu diesem Ausschnitt zu entwickeln. Es öffnet unseren Geist für Möglichkeiten.
Diese Unvoreingenommenheit ist etwas, was ich mir in meiner Arbeit, die per se Täter-Opfer-Situationen beinhalten, immer wieder als inneres Mantra an den Anfang einer Zusammenarbeit stelle. Ich bekomme einen Fall. Lese die Fakten in Gerichtsbeschlüssen, Protokollen und Aufzeichnungen. Atme durch und gehe Möglichkeiten in meinem Kopf dazu durch, was die wechselseitigen Beweggründe für die vorliegende Situation sein könnten. Ich verlasse meine Denkrillen und stelle mich mit einer Offenheit auf mein Gegenüber ein. Es ist nicht meine Aufgabe, die Fälle zu bewerten, sondern zu begleiten. Das klingt theoretisch gar nicht so schwer, praktisch erlebe ich – je schwerer die Themen in den begleiteten Fällen sind – eine größere Herausforderung, in meiner offenen Haltung zu bleiben.
Sina Töpfer